Alles nur Lügner?“ lautete die Titelzeile einer österreichischen Tageszeitung, die es, nebenbei bemerkt, mit der Wahrheit auch nicht so genau nimmt. Über mehrere Seiten wälzte dieselbe das Problem der fehlenden Glaubwürdigkeit von Politikern.
Anlaß dazu bot das von den Regierenden in Wien vor der Wahl verschwiegene Budgetloch. Ein schwerer Vertrauensverlust wird geortet, der aber in Wirklichkeit schon vor längerer Zeit eingetreten ist. Es geht aber schon lange um mehr als nur um Lügen, es geht längst um Kultur ganz allgemein, und dazu gehören auch die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten.
Wenn man das Wählervolk nun in Sachen Budget angelogen hat, so wiegen aber ebenso schwer die Halbwahrheiten und das Verschweigen dessen, was dem Volk mitzuteilen wäre. Sagt uns die Regierung etwa, daß die derzeitige Zinspolitik den Sparern und Vermögenden Verluste zu Gunsten der Verursacher der Überschuldungskrise bringt, und tut sie etwas dagegen, begehrt sie laut auf? Warum gibt man nicht zu, daß es, trotz gegenteiliger Berichterstattung, weder bei uns noch anderswo ohne Neuverschuldung weitergehen kann? Man schweigt, und läßt sich dieses wahrscheinlich vergolden.
Bis in die jüngere Vergangenheit dürfte – in gewißer Weise – vielleicht noch die Meinung weit verbreitet gewesen sein, daß trotz gelegentlicher Fehler und Verirrungen, auch die Politiker über einen Kernbestand von gutem Handeln und richtigem Verhalten verfügten. Das hat ganz allgemein auch mit dem berühmten, von den Soziologen so genannten „Urvertrauen“ zu tun, daß früher einmal auf das heute relativ unbekannt scheinende „humanum commune“ zurückgeführt wurde.
Eben dieser Gemeinsinn, diese Selbstverständlichkeit, sich als Teil einer Gemeinschaft, ja Schicksalsgemeinschaft zu sehen, ist abhanden gekommen. Ein Politiker fühlt sich heute seiner Wählerschaft nicht mehr so verpflichtet, wie vor Jahrzehnten, geschweige denn seinem Volk.
Der Politiker von Heute hat darüberhinaus mehrere Loyalitäten nach Innen und Außen zu berücksichtigen, wobei dort nachgegeben wird, wo der größte Druck verspürt wird. Und der ist mit Sicherheit bisher nicht genügend von den Wählern gekommen.
Der österreichische Bundeskanzler hat in einem Interview mit der eingangs erwähnten Zeitung gemeint, man werde in Zukunft die Öffentlichkeit “intensiver informieren”. Das ist zu wenig Herr Faymann, wir möchten vor allem auch wahrheitsgetreu informiert werden. Zu viel verlangt? Dies darf wohl angenommen werden.
Da sich den EU- und sonstigen Zwängen auch jede nachfolgende Regierung unterwerfen müßte, ist eine ehrlichere Haltung auch von Politikern, die von der Oppositionsbank in die Regierung wechseln, kaum zu erwarten. Die Politiker sind angesichts der Verhältnisse gezwungen dort zu lügen, wo durch Offenheit die gesteckten Ziele der Mächtigen in Gefahr kämen.
Wenn nun zur Ablenkung oder Besänftigung der Volksseele mehr „deutsche Tugenden“ gefordert werden, also mehr Gründlichkeit und offene Debatten statt Wiener Schlamperei, dann könnte das zwar nicht schaden. Nur, bitte sehr, übersehen wir dabei nicht, daß damit nicht verhindert wird, daß, wie in der Bundesrepublik Deutschland, der Wähler trotzdem angelogen wird. Was sich im Zuge der Finanzkrise und den Rettungsmechanismen deutlich gezeigt hat. Aber immerhin lagen die Bundesrepublik-Deutschen 2012 im Korruptionswahrnehmungsindex (CIP) etwas mehr als zehn Punkte vor Österreich, daß sich einmal Deutschösterreich nannte und vorbildlichere Politiker hatte.
Nun ist Korruption das eine, Lüge etwas anderes, und doch sind beide untrennbar miteinander verbunden, und beide verweisen auf das Kulturelle, also die jeweilige Kultur einer Gesellschaft oder eines Bereichs. Da es nun einmal hieß, die Kultur und nicht die Politik bestimme den Erfolg einer Gesellschaft, fragt man sich angesichts der herrschenden politischen Sitten und Bräuche, in welcher Kultur leben wir denn eigentlich? Gilt nämlich die weitverbreitete Annahme, wir seien in Wirklichkeit ein versklavtes Volk, dann ist das, was wir als Kultur wahrnehmen, bereits Teil dieser Knechtschaft.
Doch nicht überall plagt man sich damit herum. Daß Völker im Norden Europas oder kleinere in der Südsee für Korruption oder freiwillige Knechtsschaft (welche auch Lügen fördert) weniger anfällig sind, kann nicht übersehen werden. Dies sollte ein Anlaß sein, sich, jenseits jeder Schwarz-Weiß-Malerei, über die Bedeutung einer ganz bestimmten Kultur für die Stabilität und den Erfolg einer Gesellschaft sich Gedanken zu machen. Was infolge der Komplexität jeder Kultur gewissenhaft zu erfolgen hätte.
Eine dadurch inspirierte Politik könnte dann einmal den Anstoß für eine neue oder von Schlacken befreite, erneuerte Kultur geben. Vorausgesetzt man wird sich der Knechtschaft bewußt und nimmt sein Schicksal wieder selbst in die Hand.
Helmut Müller