Michael Nier
Franz Josef Strauß sagte einst: „Manche Sachen müssen zu Ende faulen, um eine Fehlentwicklung sichtbar zu machen.“ Deutschland fault seiner Zukunft entgegen. Eine Lösung der Probleme, die eine neoliberale Globalisierung Deutschlands permanent produziert, ist erst in einer großen komplexen Krise möglich: Weltwirtschaftskrise, Krise des Westens, offensichtliche Unlösbarkeit der Probleme in Deutschland, Krise auf dem Küchentisch und offensichtliche Unfähigkeit der Eliten, sich ans Volk zu wenden und dabei Gehör zu finden. Politiker können Probleme lange ignorieren. Aber irgendwann fangen die Probleme an, die Regierenden zu ignorieren – und brechen ungerührt hervor. Da sind wir gerade angekommen.
Dass in einem ersten Schritt die Bundeskanzlerin den Vorsitz in der CDU abgibt, ist ein kleines Signal. Die Diadochenkämpfe brechen aus. Letztlich wissen alle Kandidaten für den Vorsitz der CDU, die ja auch alle Kanzler werden möchten, nicht weiter.
Die meisten sind nicht in der Lage, die Situation in ihrer historisch gewachsenen Komplexität zu analysieren und haben auch Angst vor der eigenen Courage. Sie wissen: Wenn man zur unrechten Zeit das zukünftig Erforderliche denkt, kann man schnell aus dem politische Spiel gekegelt werden. Natürlich gibt es auch paar Leute, die eine Lippe riskieren, aber die gelten nicht selten als Hofnarren. Über Gauweiler wird im Morning Briefing des Handelsblattes vom 20.12.2017 berichtet. „„Was geschieht, wenn nichts geschieht?“, wollen wir von ihm wissen. Seine Antwort ist an Düsternis kaum zu überbieten: „Wenn die Bundesregierung nicht gegensteuert, dann bekommen wir noch mehr EU, noch mehr Militärinterventionen, noch mehr Kultur- und Substanzverlust. Unsere Städte treten über die Ufer, werden zu rechtsfreien Konglomeraten mit einer Ghettoisierung wie im Harlem der 80er-Jahre.“
Nachdem die C-Parteien und die SPD große Verluste bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen erleiden mussten, droht auch in den Landtagswahlen des Jahres 2019 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg eine noch saftigere Niederlage. Der Katalysator für diese rasche Entwicklung ist die Grenzöffnung vom September 2015 von Angela Merkel für Millionen Einwanderer aus Vorderasien und Afrika gewesen. Der zum herrschenden Neoliberalismus gehörende Menschenhandel, genannt Freizügigkeit von Personen, ist in eine Extremform gekommen, die sich von besorgten Menschen zum Nachfragen nach dem politischen Willen der Oberstschichten in Deutschland und der EU ausgeweitet hat. Man konnte in fast jedem Ort Deutschlands feststellen, dass Fremde mit sonderbaren Verhaltensweisen zur Ansiedlung gekommen waren, die überdies aus dem deutschen Sozialsystem versorgt werden müssen. Die Konzerne zahlen nichts. Dies aufgezwungene Ansiedlung Fremder führte bei vielen Deutschen zum Zweifel an der generellen Legitimität gegenwärtiger Politik. Dient die Ansiedlung Fremder dem Wohl des deutschen Volkes? Sind die Deutschen verpflichtet, ihr Land zur Ansiedlung Fremder aus Afrika und Asien bereitzustellen? Enthalten die „Menschenrechte“ das Recht auf Einwanderung, Ansiedlung, Ernährung und Integration?
Bricht „Menschenrecht“ etwa Völkerrecht und nationales Recht? Es entstehen also aus dem Volk politische Fragen. Wer diesen Fragen auch nur positiv gegenübersteht und sich politisch äußert, der wird heute mit den Hetzworten Populist, Rechtsextremist oder Nazi diffamiert und soll zur Ruhe gezwungen werden. Sehr demokratisch von den von sich überzeugten Demokraten! Diese Demokraten wissen nicht weiter und wollen deshalb jeden Widerstand abblocken. Das funktioniert nur noch eingeschränkt.
Man kann auch heute keine Politik für das Volk machen und dabei das Volk in die Politik als Akteur einbeziehen, wenn man nicht eine Analyse durchführt, warum es heute so ist und wie die allenthalben zu erlebende politische Fäulnis entstanden ist.
Zur Erklärung müssen wir uns mindestens zwei großer Entwicklungsstränge vergewissern:
1. Der eine ist der Pyrrhussieg des angelsächsischen Neoliberalismus, der eine imperialistisch-kosmopolitische Ideologie des Finanzkapitals ist. Aus den 60er Jahren stammt diese gegenwärtige Herrschaftsideologie. Die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte, auch in Deutschland, war gekennzeichnet durch neoliberale Konzepte der Deregulierung, „Privatisierung“ und des Sozialabbaus. Kapitalverkehrsfreiheit ist die höchste Freiheit und die Steigerung der Aktienwerte ist das Kriterium des Erfolgs. Und dies solle global gelten und alle Völker haben ihr Eigentum an die großen Kapitaleigner abzugeben. Insofern handelt es sich um eine kosmopolitische Ideologie und sie ist politökonomisch als internationaler Rechtsextremismus zu werten. Im Ergebnis beherrschen heute in Deutschland Themen wie Teilnahme an den Globalisierungskriegen der USA, Bankenrettung und Überschuldung, Niedrigzinsen für Sparer, Steuerung der Konzerne durch ausländische Finanzinvestoren, Verödung der Städte durch Handelsmonopole, Niedriglohnsektor, Alters- und Kinderarmut, Wohnungsnot, Bildungsnotstand, Steuervermeidung sowie der Abbau der staatlichen Daseinsfürsorge, die politischen Gespräche. Diese Politik von Kohl, Schröder und Merkel ist nicht einem imaginären linken Lager zuordenbar. Es ist die deutsche Variante des kosmopolitischen Rechtsextremismus, also einer Ideologie und Praxis der internationalen Herrschaft des Finanzkapitals. Die Signale kamen dafür auch nicht aus Deutschland, sondern wurden nur willig von den dem Großkapital verbundenen Eliten aufgenommen. Ein historisches und bis in die Gegenwart nachwirkendes Beispiel ist die Überführung der sogenannten „friedlichen Revolution“ in der DDR, die zu einem besseren Sozialismus mit Reisefreiheit führen sollte, in eine radikalimperialistische Umwandlung eines ganzen Landes. Ab dem 3.10. 1990 vollzog sich auf dem Gebiet der DDR ein neoliberalen Umbau nach dem Modell Chile 1973. Das führte dann in der Folge in ganz Deutschland zur Agenda 2010 und zur Beseitigung der „sozialen Marktwirtschaft“. Alle Parteien der BRD waren dabei, auch die PDS seit dem Senatorenposten von Gysi in Berlin.
2. Der parallele Entwicklungsstrang zum kosmopolitischen und rechtsextremistischen Neoliberalismus ist sein scheinbares Gegenteil, der „kosmopolitische Linksliberalismus“. Dieser interpretiert die Konflikte im Kapitalismus vornehmlich moralisch, kulturell und neuerdings auch rassistisch. Das Credo ist, wenn wir die Phänomene des Kapitalismus besiegen, haben wir den Kapitalismus besiegt. Es ist da facto die Strategie, „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ So entwickelten die linksbürgerlichen Kräfte in der Frankfurter Schule eine Kritik der Entfremdungsphänomene des Kapitalismus und setzten auf Emanzipation von bisheriger Bürgerlichkeit. „Macht kaputt, was Euch kaputtmacht!“ Damit im Zusammenhang wurde die „instrumentelle Vernunft“ kritisiert, d.h. alle diejenigen wurden als blinde Knechte des Kapitals verdammt, welche die heutige Zivilisation planten, herstellten und in der Funktion aufrechterhalten. Das linksbürgerliche Publikum lebt in dem Wahn, man müsse die kapitalistische Entfremdung kulturell überwinden und die gegenwärtige Zivilisation durch eine neue, nicht repressive, mit der Natur vereinbare Zivilisation ersetzen. Dieser “kosmopolitische Linksliberalismus“ kommt immer mit einem guten Gewissen der Kritik daher, ist überaus selbstbewusst und völlig beratungsresistent. Dauerthemen sind die „sexuelle Befreiung“, Anerkennung aller frei wählbarer sozialer Geschlechter (Gender), Freigabe aller Rauschmittel, völlige Gleichheit aller Menschen aus aller Welt an jedem Ort als staatliches Organisationsprinzip, Rettung des Klimas mit allen Mitteln, Beseitigung aller schädlicher Technik, Dekarbonisierung der Energieversorgung, Überführung der heutigen Landwirtschaft in eine ökologische Landwirtschaft, ach Frieden soll auch noch sein.
War der Linksliberalismus vor 30 Jahren noch mit dem Wissen versehen, dass es die ökonomische und politische Macht des Kapitals wirklich gibt und man dagegen zumindest anstinken sollte, so haben wir eine neue Wendung hin zu einer rassistischen Personalisierung. Hendrik M. Broder zitiert in einem Artikel vom 5.6.2014 bei Welt-Online: „Wer schützt eigentlich uns alte weiße Männer?“ eine sich als EU-Abgeordnete der Grünen warmlaufende junge Frau. Die ist überzeugt: „Liebe Freundinnen und Freunde! Wenn ich morgens beim Frühstück die Zeitung aufschlage, dann sehe ich ein Europa der alten weißen Männer in dunklen Anzügen, die in irgendwelchen Hinterzimmern Verträge unterschreiben. Aber das ist nicht mein Europa, das ist nicht das Europa, das ich in den letzten Jahren erlebt habe. Europa ist nicht alt, Europa ist nicht verstaubt, nein, ich sage Euch, Europa ist rebellisch, Europa ist veränderbar, und das ist auch gut so!“ Sehr euphorisch und sehr naiv. Broder stellt bei den Grünen ein neues Feindbild fest, der „weiße, heterosexuelle, gesunde, mitteleuropäische, nichtreligiöse, nichtbehinderte, gutverdienende, gutausgebildete, rational denkende Mann mitteleuropäischer Herkunft“. Durch die Verbindung des „Kosmopolitischen Linksliberalismus“ mit dem Feminismus ist ein politisch wüstes politisches Angebot entstanden. Die Linke ist nicht mehr die Linke der proletarischen, marxistisch geschulten Kämpfer gegen das internationale Kapital, sondern die egoistische, geschichtslose, destruktive, hysterische, niederträchtige, perverse, selbstgewisse Spießbürgerlichkeit des bessergestellten elitären Egoisten oder sozial entwurzelter Gruppen. Es ist nur logisch, dass der böse weiße Mann auch der Unhold der letzten Jahrhunderte war. Nicht der Kapitalismus und seine Kirchen sind schuld an der Kolonial-, Ausbeutungs- und Kriegsgeschichte der letzten 500 Jahre, sonder die „bösen, alten weißen Männer“, die immer noch überall die Macht haben. Feindbild also klar. Wenn das nicht die Überführung der Kapitalismuskritik in einen antiweißen Rassismus ist?
Über die Jahre hat Angela Merkel aus Gründen des politischen Machterhalts die Forderungen des „kosmopolitischen Linksliberalismus“ aufgenommen und damit zugleich diese irrationale politische Strömung gestärkt. 20 % der Wählerstimmen entfallen derzeit in Westdeutschland auf die Grünen. Ihre postmodernen Wähler wählen diese Partei, um sich ein gutes Gewissen zu machen und um Ablass für ihren gehobenen Lebensstil zu bitten. Es handelt sich hier um eine politische Wohlstandsverwahrlosung historisch ignoranter und von sich außerordentlich überzeugter Mittelschichten. Sicher war Merkel auch der Meinung, dass sie solch eine bei den Bessergestellten im Lande verbreitete Ideologie unbedingt positiv aufnehmen muss. Diese Ideologie hat schließlich einen enormen Verwirrungswert. Angela Merkel ist eine konsequente Neoliberale und nutzt aus Opportunitätsgründen den linksliberalen Zeitgeist. So erschien es dem naiven Betrachter als ob Merkel eine „Linke“ sei. Nein, sie ist nur pragmatisch. Zum Schutz des Neoliberalismus, des „kosmopolitischen Rechtsextremismus“ und zur Sicherung der gegenwärtigen EU-Ausbaupläne hat sie Forderungen des „kosmopolitischen Linksliberalismus“ in ihre Politik integriert. Der „kosmopolitische Linksliberalismus“ ist nützlich bei der Strategie der EU zur Beseitigung der europäischen Nationen und Nationalstaaten sowie der Herstellung einer identitätslosen Arbeitskräfte- und Konsumentenmasse auf dem europäischen Kontinent.
Damit hinterlässt Merkel ein verwirrendes Erbe. Jeder künftige Parteistratege der CDU und kommende Bundeskanzler muss an diesem Erbe anknüpfen oder es brutal ausschlagen. Ob es einer von den vielen Kandidaten für den Vorsitz der CDU kann, ist nicht absehbar. Vermutlich muss es einen deutschen Donald Trump geben. Ob Friedrich Merz so was werden kann, ist sehr fraglich. Der Mann ist in seinem bisherigen Neoliberalismus etwas aus der Zeit gefallen, obwohl die sozial Hartherzigen bei seiner Kandidatur in Begeisterungsstürme ausbrachen. Vielleicht wählen die „bösen, alten weißen Männer, die in schwarzen Anzügen in Hinterzimmern Verträge abschließen“, doch wieder einen aus ihrer Mitte und munitionieren ihn auf. Macron hat gezeigt, Politiker können auch auf dem Reißbrett entworfen und dann dem Volk aufs Auge gedrückt werden. Mir fällt dabei spontan die Journalistin Nina Ruge ein, die jeden ihrer Beiträge damit schloss: „Alles wird gut!“
Veröffentlicht: Euro-Kurier, Hohenrain-Verlag-Tübingen, November 2018, S. 1 – 3